Am 21. Juni wird Wolfgang Grätz, Direktor des Norder Ulrichsgymnasiums, in den Ruhestand verabschiedet


Wenn es am Norder Ulrichsgymnasium (UGN) 1989 nicht gebrannt hätte, wäre Wolfgang Grätz wohl „einfacher Lehrer“ geblieben? Der im Chemieunterricht Schülern und Schülerinnen anhand von Experimenten erklärt, was Säuren sind, was Basen? Ihnen im Sportunterricht den perfekten Sprungwurf vormacht? Möglich, aber irrelevant. Brannte es doch an der Schule, musste vieles geregelt und koordiniert werden – und merkte Wolfgang Grätz, dass er daran Spaß hatte. Die eigenen Fähigkeiten weniger im Unterricht, dafür mehr auf der Verwaltungsebene einzusetzen, ja, das war sein Ding.
Aus dem Sport- und Chemielehrer wurde der im Personalrat Engagierte, der Koordinator, der stellvertretende Schulleiter. Und ab 2010 der Direktor. Der in diesem Sommer kurz vor seinem 69. Geburtstag seinen Abschied nehmen muss.
Er hat ihn hinausgezögert, solange es irgend ging. Während mancher gern so früh wie möglich aus der Jobmühle heraustritt, hat Wolfgang Grätz Jahr um Jahr verlängert. Bis zum Äußersten. Aber nun ist halt Schluss – am 21. Juni wird er offiziell verabschiedet.

 

Ursprünglich wollte er Tierarzt werden
Dann wird es viele nette Worte geben, Dank von allen Seiten, ganz sicher. Zum Beispiel, weil es unter seiner Regie gelungen ist, manche Klippe gut zu nehmen. Gymnasium erst runter auf acht, dann wieder rauf auf neun Jahre, Corona, sicher hier und da schwieriger Umgang mit Schülern und Eltern, Integrieren von jungen Menschen mit traumatischen Erlebnissen – nicht nur Lehrkräfte in verantwortlichen Positionen haben da ganz schön was wuppen müssen.
Vielleicht hat den jungen Menschen Grätz schon geprägt, dass er sich selbst hier und da seinen Platz erobern, erkämpfen musste. Die Eltern zogen, Wolfgang Grätz war noch ein Kind, aus Braunschweig nach Aurich, hier machte er sein Abitur, hierher kam er zurück. Hatte Tierarzt werden wollen, aber das gab der Abischnitt nicht her. Versuchte es über Umwege – erst mal Chemie studieren, Physik, eine Grundlage schaffen. Bis sich im Studium die Leidenschaft fürs Lehramt herauskristallisierte. Also Kindern das Periodensystem beibringen und nicht die Wurmkur für Hunde verordnen, mit Sport ein weiteres Fach studieren und dann ab in den Schuldienst?
So einfach war es halt nicht in den 1980er-Jahren, selbst in Ostfriesland nicht, wohin Grätz unbedingt zurückwollte. Hier hatte er immer ein Zimmer, obwohl die Familie längst wieder weggezogen war... Sich also mit Jobs über Wasser halten – zum Beispiel in einem Emder Projekt für Jugendliche, die es mit der Schule nicht so hatten und ohne Abschluss dastanden.
1984 dann die Schwangerschaftsvertretung, die erste Berührung mit dem UGN. Angestellter Lehrer auf Zeit. Es war Grätz‘ Glück, dass er später quasi als Nachrücker unter Direktor Johann Eilers eingestellt wurde, weil die eigentlich vorgesehene Lehrerin ihre Stelle nicht angetreten hatte. „Dann nehmen wir den Grätz“, soll Eilers gesagt und hinzugefügt haben: „Aber Sie brauchen nicht denken, dass Sie mal Sport unterrichten!“ Chemie war gefragt! Nun, der Neue durfte dann doch auch mal in die Sporthalle...

Aufmüpfige Schüler? Gern!
Später dann der erwähnte Schritt in die Verwaltungsebene. Etwas für die Schule, das Kollegium, die Schülerschaft tun auf anderer Ebene. Ab 2010 als Nachfolger von Harald Rüdig auf der Höchsten in seiner Schule, „Ab zum Direktor“ heißt es wohl auch heute noch gern bei äußerst aufmüpfigen Jungspunden oder auch bei Eltern, die partout anderer Auffassung sind als das Lehrpersonal. Daran hatte er Spaß? „Ich mag lebhafte und auch mal aufmüpfige Schüler“, sagt der Noch-Direktor, „ich mag spannende Diskussionen und Leute, die sich nicht alles gefallen lassen. Ich will wissen, wo der Schuh drückt.“ Auseinandersetzungen, egal mit wem, nicht aus dem Weg gehen, sondern Probleme frühzeitig angehen. Ist das seine Devise? Was überhaupt macht einen guten Schulleiter aus? „Ich weiß es nicht!“, sagt Grätz wenige Wochen vor seinem Abgang. „Zuhören? Wertschätzen?“, fallen ihm dann doch Attribute ein, und er ergänzt: „Alle ernst nehmen, deutlich machen, was nicht in Ordnung ist, aber jedem die Chance geben, danach weiterzumachen.“

Kluge Köpfe sind einzige Ressource
Allerdings, sagt er mit Nachdruck, sei er ganz der „klassische Gymnasiallehrer“ geblieben. Der die Schulentwicklung durchaus kritisch betrachtet. Die zunehmende Flut von Einserabiturienten? „Die Kinder sind nicht schlauer als früher, der Bewertungsmaßstab hat sich geändert“, gibt er einen Hinweis darauf, dass das Niveau in Abschlussklausuren eher nach unten angepasst wurde, um die Zahl der Abiturienten zu erhöhen. Das aber, findet er deutliche Worte, sei fatal für kluge Kinder. Denen müsse man die Chance geben, das Maximale aus sich herauszuholen. „Kluge Köpfe sind unsere einzige Ressource!“ Man dürfe das Anspruchsniveau nicht kaputt machen.
Einfacher geworden ist Schule, das ist aus Grätz‘ Worten herauszuhören, nicht unbedingt. Digitalisierung, Smartphonealarm nicht nur auf den Schulhöfen, Künstliche Intelligenz – da ist trotzdem nichts, was ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen scheint. „Die Digitalisierung ist wichtig, aber nur da, wo sie einen Vorteil bringt gegenüber den alten Methoden oder zumindest gleichwertig ist“, findet er. Richtig schreiben und rechnen (nicht nur das kleine Einmaleins), das sollte seiner Ansicht nach beherrschen, wer aufs Gymnasium will, sich sprachlich mit Zeiten, Formen auskennen, wissen, was ein Konjunktiv ist und damit umgehen können. „Dann“, ist Grätz überzeugt, „ist auch an anderer Stelle differenziertes Denken möglich.“

Schrauben oder Imkern? Oder wieder Lehrer?
Beim Blick zurück, gibt sich der Fast-Pensionär nicht gerade ein makelloses Zeugnis. „Nein, manches würde ich nicht wieder so machen“, sagt er selbstkritisch, ohne Beispiele zu nennen. Sieht aber das UGN trotzdem gut aufgestellt für die Zukunft, zumal er mit der Person, die ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachfolgen wird, sehr einverstanden ist: „Viel fleißiger!“ ist sein Eindruck...
Trotzdem – 14 Jahre hat Wolfgang Grätz die Geschicke am UGN geleitet, er hat immer noch Spaß daran. Was nicht heißt, dass er mit neuer Freizeit nichts anzufangen weiß. Das Handwerk wieder aufleben lassen vielleicht? Das hat er in den Osterferien, erzählt er, schon mal getestet, als er einen Aluanhänger fürs Fahrrad gebaut hat. Schrauben an alten Autos, er hat da ein ganz bestimmtes im Kopf, ja, daran hätte er auch Spaß. Oder sich wie früher der Imkerei widmen. Warum nicht? „Aber mir fehlt noch was Intellektuelles!“
Er könnte ja sogar wieder stundenweise als Lehrer arbeiten... Das, stellt er gleich klar, kommt nicht infrage. Wäre, findet er, nicht anständig, womöglich seinem Nachfolger/seiner Nachfolgerin in die Suppe zu spucken. Dann lieber an anderer Stelle einen Job übernehmen. Oder mal in Ruhe Klassiker lesen? „Vielleicht Kleist.“ Oder noch mehr Wilhelm Busch auswendig lernen. Für den, gesteht Grätz, hat er nämlich ein besonderes Faible.

Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 01.06.2024, Seite 7.