SCHULE Auftakt des „Relais de la Mémoire Juniors“-Treffens in Norden am Ulrichsgymnasium
Zeitzeugen berichten, in Workshops und Diskussionsrunden werden verschiedene Themen und Aspekte bearbeitet.

NORDEN/ISH – Sie kommen aus Marseille, Paris, Newcastle und Wien, um zu lernen, sich auszutauschen, zuzuhören und einander vorzutragen. Möglich, dass es ihnen gelingt, was sich Lehrerin Petra Drüke erhofft. Dass ihre Frage: „Aus Erinnerung entsteht die Zukunft – stimmt das noch?“ positiv beschieden wird und dass „nicht nur Probleme besprochen, sondern Ansätze zur Lösung“ gefunden werden, wie es sich Drüke als „Relais de la Mémoire Juniors“-Gastgeberin vom Norder Ulrichsgymnasium wünscht.
Seit Mittwochabend sind rund 40 Jugendliche von Schulen aus eben genannten Orten zu Gast am UGN. Verbunden durch das „Relais de la Mémoire Juniors“, das sich seit 18 Jahren dem Thema Erinnerung widmet – wie sie für die Gegenwart und Zukunft bewahrt, wie aus ihr sinnvoll gelernt werden kann. Das Ganze immer und besonders vor dem Hintergrund zweier Weltkriege im letzten Jahrhundert. Zum diesmal gewählten Thema „Europa in Gefahr – gestern, heute, morgen“ gehören im Rahmen des dreitägigen Austausches am Norder Gymnasium Workshops, Diskussionen und Schüler- Präsentationen. Was bedeutet 15-Jährigen heute Europa, was hat der Mauerfall für jene, die danach geboren sind, überhaupt für eine Bedeutung? Das sind nur zwei Fragen von vielen, die die jungen Leute in diesen Tagen bearbeiten.

Der Donnerstag gehörte zunächst der offiziellen Begrüßung durch Bürgermeister und Schulleiter. Beide betonten, wie wichtig der Austausch untereinander sei, dass sich kein Land abschotten und abgrenzen dürfe. Europa, sagte Bürgermeister Heiko Schmelzle, sei das größte Erfolgsmodell der Nachkriegsgeschichte. Dieses Haus dürfe nicht in seine Einzelteile zerlegt werden. Nur als Einheit könnten in der Welt Akzente gesetzt werden für Frieden und Freiheit. Gleichzeitig sei es wichtig, bei bestimmten Themenfeldern die Regionen vor Ort entscheiden zu lassen, wichtig sei dabei die Rückbesinnung auf historische Regionen mit ihren besonderen Dialekten, Gebräuchen und Traditionen.
Schulleiter Wolfgang Grätz mahnte davor, sich verführen zu lassen. Politische Zusammenhänge seien sehr komplex, derzeit aber bestehe zunehmend die Gefahr, einfachen Parolen hinterherzulaufen.
Mit Anne-Marie Poutiers ist auch die Vorsitzende des „Relais de la Mémoire Juniors“ nach Norden gereist. Sie verwies wie auch im Anschluss die Relais-Schülergruppe des UGN auf den bevorstehenden schicksalsträchtigen Sonnabend: den 9. November. Brennende Synagogen 1938, der Fall der Mauer 1989. Aber schon zuvor, das erläuterten die Norder Schüler und Schülerinnen, habe es geschichtsträchtige Ereignisse an eben diesem Tag gegeben, beispielsweise 1848 (Hinrichtung Robert Blum, Kehrtwende Revolution), 1918 (Novemberrevolution) und 1923 („Hitlerputsch“).
Dass die Menschen von heute, die Gesellschaften permanent auf der Hut sein und ihre Werte verteidigen müssen, wurde schon am ersten Vormittag des diesjährigen Herbsttreffens der Relais-Mitglieder deutlich. „Die Muster sind immer gleich“, hat eine Schülergruppe aus Wien festgestellt – sie berichtete von Geschehnissen aus Paris und Chemnitz aus der jüngsten Vergangenheit, wo gegen Sinti und Roma beziehungsweise ausländische Mitbürger gehetzt worden war. Mit schlimmen Folgen.
Carl Osterwald konnte genau das nur bestätigen. Er ist einer von mehreren Zeitzeugen, die den Schülern ihre Lebensgeschichte erzählen. „Die Nazis waren keine Unmenschen“, sagte der 92-Jährige, „sie waren Menschen!“ Er sagte das, um deutlich zu machen, dass jederzeit dieselben Mechanismen greifen können: „Es waren Menschen, die sich haben verführen lassen.“ Und Osterwald, der sich unter anderem für den Verein Gedenkstätte Engerhafe stark engagiert hat, lange Jahre dessen Vorsitzender war, erklärte auch, wo die Gefahren liegen. Man müsse Geschichte „wirklich erinnern“, das bedeute, die Betroffenheit in sich aufzunehmen. Daraus müsse Verantwortung gelernt werden und es seien entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Versöhnung müsse geübt werden, sagte Osterwald vor einer Schülergruppe.
„Wir haben alle Prägungen“, erklärte er weiter und fügte an, was den Menschen außerdem zu dem macht, der er ist: Einflüsse und Erwartungen. Eindrucksvoll berichtete Osterwald von seinem Aufwachsen in Nazideutschland, das von patriarchalischen Strukturen geprägt gewesen sei. Dass man als Kind nur Gehorsam kannte, Härte und Kommandos.
Osterwalds Geschichte war eine von vielen am ersten Vormittag – eine jede von ihnen dürfte indes für nachhaltige und bleibende Eindrücke gesorgt haben. Mit Mitra Bilal, die seit 2013 in Deutschland lebt, gehörte auch eine gebürtige Syrerin zu den Zeitzeugen. Sie erzählte Schülern von jüngsten Fluchterfahrungen.
Zum dreitägigen Treffen der jugendlichen Teilnehmer des „Relais de la Mémoire Juniors“ gehören am Sonnabend auch historische Stadtführungen und die Gedenkfeier zur Pogromnacht 1938 am Platz der ehemaligen Norder Synagoge.

Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 08.11.2019, Seite 4.