Für Laura Trinh ist es die Möglichkeit, Geschichte durch Zeitzeugen zu lernen. Und Anna Nguyen ist beeindruckt, weil die Arbeitsgemeinschaft Relais de la Mémoire es ihr ermöglicht hat, „sich auf andere Weise fortzubilden“.
Dies sind nur zwei Einschätzungen, die Schülerinnen und Schüler der Arbeitsgemeinschaft Relais de la mémoire des Ulrichsgymnasiums Norden (UGN) nach ihrer Fahrt nach Marseille (Frankreich) geben. Man merkt ihnen auch Tage nach dem Zurückkommen nach Norden an, wie sehr die Begegnungen mit den Menschen und deren Geschichten sie beeindruckt.

Das „Relais de la Mémoire“ (zu Deutsch: Staffelstab der Erinnerung“) wurde von französischen Überlebenden der Konzentrationslager gegründet. Dieses europäische Projekt hat das Ziel, Zeitzeugenerfahrungen an die junge Generation weiterzugeben. Schwerpunkt bildet die Zeit des Nationalsozialismus, aber es werden auch immer wieder aktuelle Themen angesprochen, die die politische Situation in Europa zum Inhalt haben. Das diesjährige Jahresthema lautete „Leben und Überleben in Kriegszeiten“.
An dem „Relais de la Mémoire“ beteiligen sich zurzeit neun Schulen aus Frankreich (aus Marseille und Paris), Belgien (Tournai be Brüssel), Österreich (Wien), der Tschechischen Republik (Prag) und Deutschland, aus Norden. Die Norder sind seit 2013 mit ihrer Lehrerin Petra Drüke mit dabei. Nach zwei Jahren Pause wegen der Corona-Beschränkungen hatte dieses Mal eine Schule aus Marseille eingeladen.

Die Schülerinnen und Schüler, die sich dieses Mal auf den Weg machten, waren alle zum ersten Mal mit dabei. Und so machte sich während der 17-stündigen Bahnfahrt neben Vorfreude und Neugier auch eine gewisse Unsicherheit breit.
Nach einem Vortrag zum Algerienkrieg begaben sich die Jugendlichen an die Runden Tische. Hier berichteten Zeitzeugen und Spezialisten über ihre Leben: Einer berichete, wie es war, sich als jüdisches Kind, während der Nazizeit in Frankreich verstecken zu müssen. Ein anderer berichtete über die Gräueltaten im Algerienkrieg und über die Mission SOS Méditerranée. Die anschließenden Schülerpräsentationen streiften viele Bereiche. Es gab Vorträge über die „Wolfskinder“, die nach dem 2. Weltkrieg ihre Eltern verloren hatten und um ihr Überleben kämpfen mussten. Die Prager Schulen hatten einen Film zum Prager Frühling gedreht. Aus Paris hatte sich eine Delegation mit dem spanischen Bürgerkrieg beschäftigt. Die Norder Jugendlichen hatten sich Gedanken dazu gemacht, was in Kriegszeiten hilft, nicht nur zu überleben, sondern auch zu leben. Dabei präsentierten sie sowohl eine deutsche als auch eine französische Version. Die Norder Schülerin Greta Folkerts stellte darüber hinaus das Leben der Wormser Jüdin Tanya Josefowitz vor.

Besonders beliebt sind die Workshops, in denen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ihre Erfahrungen musisch oder künstlerisch umsetzen. Die Qualität des Theaterspiels, des Tanzes und des Chors, der Fotos, der Texte und der Beiträge zum Webradio sei auch dieses Jahr wieder beeindruckend gewesen. Petra Drüke: „Es ist unglaublich, was die Schüler hier leisten.“
Bei fast schon sommerlichen Temperaturen erfuhren die Teilnehmer während eines Stadtrundganges die Geschichte Marseilles in den Kriegsjahren. 1943 wurden alle Juden aus Marseille deportiert und das Stadtviertel, in dem viele von ihnen gelebt hatten, dem Erdboden gleichgemacht.
Der Abschied fiel schwer – nicht nur von den neuen Freunden oder von den angenehmen Temperaturen, sondern auch von den Gastfamilien, die die Jugendlichen sehr offen und freundlich aufgenommen hatten. Alle Mitfahrenden waren sich einig: „Im nächsten Frühjahr sind wir in Paris wieder dabei.“
Die Schülerin des UGN, Fenja Mertens, 15 Jahre, zieht Bilanz: „Ich habe so viele tolle Menschen aus verschiedenen Ländern kennengelernt und so viel Neues dazugelernt. Vor allem unsere Generation sollte das, was damals passiert ist, nicht vergessen und die Geschichten von denen weitererzählen, die es nicht mehr selbst können.“
Edda Mellies, 18 Jahre, urteilt begeistert: „Das Treffen war eine einzigartige Erfahrung. Gemeinsam mit Jugendlichen aus fünf europäischen Ländern an gesellschaftlichen Themen zu arbeiten, ermöglicht einen Einblick in komplett neue Perspektiven. “
Für Mika van Loh, 16 Jahre waren es „drei unfassbar effektive und tolle Tage“. Ihm habe es sehr gut gefallen, sich mit mit fremden Jugendlichen aus unterschiedlichen Ländern auszutauschen und gemeinsame Projekte auszuarbeiten. „Ich freue mich jetzt schon sehr auf das nächste Treffen.“

 

Text: Michaela Kruse
Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 6. Dezember 2022, Seite 4.