Wie wäre ein Schüleraustausch mit dem Jahr 2117?
MUSICAL Nur einer von vielen Lacheffekten beim neuen UGN-Musical - Mitwirkende und Publikum am Ende wie im Rausch
"450 Jahre Ulrichsgymnasium" ist ein Blick in manch ernste Zeiten - aber mit wundervollem Humor.

NORDEN/ISH – Es ist ja ein ziemlich abgelutschter Spruch: Wie eine große Familie sein wollen, bla bla bla – und doch: Hier passt er. Was die Schüler des Norder Ulrichsgymnasiums (UGN) in diesen Tagen auf die Bühne der Oberschulaula bringen, ist genau das. Sie spielen „450 Jahre UGN“, vor allem aber spielen und repräsentieren sie, was ihre Schule heute ausmacht. Wie schrieb doch Schulleiter Wolfgang Grätz im Vorwort zum Programmheft: „Nach meiner Meinung haben sie sich von Jahr zu Jahr gesteigert, obwohl man nach jeder Aufführung das Gefühl hatte, dass eigentlich keine Steigerung mehr möglich ist.“ Das trifft es wohl genau. Immer weiter zusammengewachsen, um beim 20. Musical zu zeigen, dass vor allem eines stimmt: die Gesamtheit. Nicht einige wenige glänzen und stechen heraus, sondern jede undj eder leistet das für das Ganze, was sie oder er am besten kann, ohne sich dabei (vielleicht auf Kosten anderer) in den Vordergrund zu spielen. Die Premiere am Mittwochabend endete in einem wahren Rausch: Auf der Bühne gab es eine Zugabe nach der anderen, im Saal war neben frenetischem Beifall auch eine ganz spezielle Atmosphäre zu spüren, der Wunsch, dazuzugehören, ein Teil zu sein von 450 Jahren Ulrichsgymnasium.

Im Grunde ist kaum vorstellbar, was da innerhalb eines Jahres auf die Beine gestellt worden ist. Jochen Fischer hat „mal eben“ 19 Stücke geschrieben für Schulorchester, Chor, für Gesangssolisten, Rainer Ubben die Texte verfasst für einen Zeitraum von viereinhalb Jahrhunderten.
Da liegt natürlich ein Problem: Unmöglich, so etwas in Gänze wiedergeben zu wollen. Das hätte jeglichen Rahmen gesprengt. Also beschränkte sich das Team auf Splitter, auf besondere Ereignisse, Momente, und selbst die können nur angerissen werden. Trotzdem dauert das Musical locker drei Stunden... Aber es reißt mit, oder besser: Das Publikum reist mit, begleitet (bei der Premiere) Justus Lüken, Jonas Helmers, Aneele Fischer und Sophia Ackermann bei ihren Stippvisiten. Erleben Mammut und Marsschulleiter, junge Mönche und Kriegsbegeisterte, bekiffte Schüler und die „besorgte Bürgerin“ Frau Schmidt, die gern Tipps an die Gestapo gibt.
Dem Orgateam ist es gelungen, eine Zeitreise auf die Bühne zu bringen, die es schafft, Unterhaltsames, Lustiges, zum Schreien Komisches neben ernste Hintergründe zu stellen, ohne dass es jemals lächerlich wirkt. Alle Achtung! Da sind Texte, egal ob gesprochen oder gesungen, in denen ganz viel Tiefsinniges steckt. Wie mit der Geschichte, mit der Vergangenheit umgehen? Wie aus ihr lernen? Und, ganz wichtig: Wie und was voneinander und miteinander lernen?

Streber Findus (herrlich verschroben Justus Lüken), Hannes, der für die Schule nie mehr tut als unbedingt nötig (mit viel Charme und ebenso stillem Ernst: Jonas Helmers), Ronja, der das Sitzenbleiben droht (impulsiv: Aneele Fischer) und Glamourgirl Cindy (auf Dauersuche nach Handyempfang wunderbar naiv spielend: Sophia Ackermann) wirbeln durch die Zeitgeschichte. Nicht, dass sie in jedem Jahr, in dem sie landen, auch UGN-Zeiten erwischen... So alt die gute Schule auch ist, in der Steinzeit gibt es nichts außer tanzenden Wilden und Mammuts – und spaßigen Seitenhieben ins Brookmerland: „Hier gibt es ja gar nichts. Wir müssen in Rechtsupweg sein.“ Auch Leezdorf kriegt noch einen mit, die Lacher haben die Schüler längst auf ihrer Seite. Alles nur nicht so ernst nehmen!

Ernst und romantisch wird es bei den Mönchen – hier fällt nicht zum ersten Mal auf, dass auch Wert gelegt wurde auf das Thema Sprache, Wörter, Sprachgebrauch: Cindy möchte gern blau machen,und UGN-Schüler Matin würde ihr so gern helfen, Kleidung zu färben... Die Andeutungen in verschiedene Richtungen sind äußerst gelungen. Warum heißt der Junge in Mönchskutte wohl Martin, warum geht es um das Thema Latein und die Übersetzung der Bibel...

Da niemand weiß, in welchem Jahr die vier „Helden“ wann landen, bleibt der Spannungsbogen den ganzen Abend mühelos erhalten. Wir lernen, dass die Schüler voll hinter ihrem Schulleiter stehen: „Wer führte Ostfriesland 2021 in die Unabhängigkeit?“ ist die Frage in der Geschichtsstunde 2117. Leider ist die überzeugte Antwort der Schülerschaft 2017 „Herr Grätz!“ falsch. Wer schon andere Stücke aus der Feder Rainer Ubbens gesehen hat, kann mit der „richtigen“ Lösung etwas anfangen:„König Hagen!“ Klar, dass das einmal mehr für Lacher sorgte, wie auch die Bemerkung der 2117-Lehrkraft, als sie registriert, dass Jugendliche aus 2017 in ihrer Klasse zu Gast sind: „Ah, Schüleraustausch!“
Der Wechsel in bewegte, in traurige Zeiten gelingt exzellent. Zumindest auf der Bühne. Da stehen am Rand trauernde Mütter, die ihre Jungen 1914 in den Krieg ziehen lassen müssen, zur passenden „Hurra, wir ziehen in den Krieg“-Musik winken marschierende strahlende Kinder – und das Publikum klatscht auch noch begeistert. Hui, das hätte man sich vielleicht verkneifen sollen...
Wenn die Begeisterung mit einem durchgeht... Zu Gast im Jahr 1937 ist es da leichter zu schweigen. Wenn die Hakenkreuzfahne im Hintergrund rot leuchtet, Frau Schmidt (Hannah Meier) ihre „wertvollen Tipps“ gibt und die verwaiste Schülerin Gertrud (Alina Hielscher) traurig von den „verschwundenen Kindern“ singt. Sehr gelungen ist (nicht nur) hier der Einsatz des Chores, der überhaupt diesmal wunderbar (mitten auf der Bühne!) zur Geltung kommt: „Verhört sie! Zerstört sie!“ brüllen sie, „schlagt ihn! Zerreißt ihn!“
Drei Stunden ein beeindruckendes Musical, da reicht kein Text, alles zu beschreiben. Auch wenn die Technik mal hakte: Ein Extralob verdienten sich alle im Hintergrund, die Technik (Lichteffekte!) war super, die Kostüme gerade in ihrer Schlichtheit sehr passend. Und auch, wenn Sologesang diesmal nur selten im Vordergrund stand: Da brillierten die Musiklehrerin Clare Boily (Spitze!) Thomas Erdbrügger in der Rolle des Schulleiters. 

Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 10.06.2017, Seite 8.