VERSTÄNDIGUNG Gruppe des Norder Ulrichsgymnasiums reist im Rahmen eines internationalen Geschichtsprojekts nach Marseille

Jugendliche setzen sich mit der eingesetzten Propaganda im Zweiten Weltkrieg auseinander.
NORDEN /ELA – Ein halbes Jahr hatten sie sich auf das Frühjahrstreffen des „Relais de la Mémoire“ („Staffelstab der Erinnerung“) vorbereitet. Und doch waren die sechs Schülerinnen und zwei Schüler des Ulrichsgymnasiums Norden sehr aufgeregt, als sie in der französischen Stadt Marseille die Ergebnisse ihrer Arbeit vor 150 Schülern und Lehrern aus Frankreich, Polen, Österreich und England präsentieren mussten. "Propaganda als Werkzeug im Krieg" lautete das Oberthema, das in vielfältiger Weise behandelt wurde.

Das „Relais“, wie es die Schüler nennen, beschäftigt sich mit der Weitergabe der Erinnerungen von Verfolgten der nationalsozialistischen Herrschaft. Gerade in Frankreich finden sich noch viele Zeitzeugen, die erzählen können, wie sie als Kinder und Jugendliche unter den Nazis gelitten haben: Sie lebten getrennt von ihren Eltern in christlichen Familien, die sie versteckten; sie lebten und litten im Konzentrationslager oder sie waren bereits aktiv als Widerstandskämpfer. Die Namen ihrer ermordeten Verwandten finden sich auf einer großen Gedenktafel in der Innenstadt. Die Schülerin Lina Biebrich vom Norder Ulrichsgymnasium meint: „Für mich persönlich ist es eine große Ehre, dass Menschen, die solch schlimme Dinge erlebt haben, sich uns Jugendlichen gegenüber öffnen und so vertraut mit uns reden. Wir sollten die Zeit nutzen, die noch bleibt, um diese Persönlichkeiten zu treffen und somit selber zu ,Zweitzeugen’ werden zu können.“
Mehrere Reden, musischkünstlerische Workshops und Schülerpräsentationen setzten sich mit den Folgen von Propaganda auseinander und eröffneten Wege, sich der Manipulation entgegenzustellen. Dabei kam es der Arbeit zugute, dass die Schülergruppen aus den insgesamt elf europäischen Gymnasien ihre eigenen Arbeiten in die Sprachen der Teilnehmer übersetzt hatten. Die Gruppe des Ulrichsgymnasiums stellte die von Joseph Goebbels gegründete Jazzband „Charlie and his Orchestra“ vor. Diese konnte nur im Ausland gehört werden. Sie spielte bekannte Jazz-Melodien, veränderte aber die Originaltexte im Sinn der nationalsozialistischen Ideologie und betonte immer wieder die Stärke der Deutschen Wehrmacht. Auf diese Weise sollten die Alliierten demoralisiert werden.
Ein Punkt, der ebenfalls alle Teilnehmer einte, war die Sorge um das Erstarken des rechten Populismus in fast allen europäischen Ländern. Eine Antwort darauf findet sich auch in der Arbeit und den Zielen des Relais. „Wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern, aber wir können verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Es ist unsere Pflicht, die Schrecken der Vergangenheit an zukünftige Generationen weiter zutragen, damit die Menschen nicht umsonst gestorben sind“, meinte ein deutschsprachiger Teilnehmer. Ein englischsprachiger Teilnehmer ist der Auffassung: „Wir dürfen die Vergangenheit nicht verstecken, selbst wenn sie furchtbar war. Ich glaube an die Arbeit des Relais!“ Für viele steht fest: „Das Relais ist nicht nur ein wichtiger Teil der Erinnerungskultur, es ist auch eine Chance für die Stärkung des europäischen Gedankens.“
Als Resümee sagte die Schüler in Anja Müller vom Norder UGN: „Am besten gefallen hat mir die Stimmung unter den Schülern, insbesondere bei den Ateliers, den Workshops, bei denen wir länderübergreifend auf Englisch zusammen gearbeitet haben.“ Ihre Mitschülerin Lina Biebrich sagte: „Beim ,Relais ’geht es auch immer um das Zusammentreffen der Jugendlichen.“ Zu Beginn fingen viele aus Interesse an der Geschichte mit dem Relais an. „Doch inzwischen gibt es eine Liebe zum Projekt und zu den Freunden, die man gefunden hat auch über die Schulzeit hinaus.“ Zu den Menschen, die man dabei treffe, habe man sofort eine besondere Bindung, wie zu Freunden, die man schon Jahre kenne. Leonie von Prüssing sagt: „Egal aus welcher Nation wir kommen, wir verstehen uns alle.“ Zwei Schülerinnen fiel der Abschied aus Marseille dieses Mal besonders schwer: Lina Biebrich und Nadja Kasolowsky machen zurzeit ihr Abitur und werden die Arbeitsgemeinschaft verlassen.
Seit dem Jahr 2013 gibt es die Arbeitsgemeinschaft „Relais de la Mémoire“ am UGN. Die Hingabe und die Ernsthaftigkeit, mit der die Teilnehmer und Teilnehmerinnen die Zeit des Nationalsozialismus aufarbeiten, motiviert auch immer wieder die Leiter der AG, Petra Drüke und Dr. Jörg W. Rademacher.

Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 01.04.2017, Seite 7.