GESCHICHTE Sechstes Treffen des Relais de la Mémoire – Gruppe des Ulrichsgymnasiums reist diesmal nach Wien
Zeugen des Holocaust geben beim „Staffellauf der Erinnerung“ ihre Lebensgeschichten weiter.

NORDEN/ELA – Nein, nicht den Prater, nein, auch nicht die Hofburg oder den Stephansdom besichtigten jetzt sieben Schüler des Ulrichsgymnasiums Norden bei ihrer Fahrt nach Wien. Die Norder im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, hörten sich in der österreichischen Hauptstadt berührende Lebensgeschichten von Holocaust-Überlebenden an. Zudem befassten sich die Jugendlichen mit dem aktuellen Thema „Migration, Flucht und Vertreibung“. Geschichtslehrerin Petra Drüke und Dr. Jörg W. Rademacher, Lehrer für Englisch und Französisch begleiteten die Gruppe.
Mit ihrem Besuch nahmen Norder Schüler zum sechsten Mal am Treffen des Relais de la Mémoire teil. Das Relais de la Mémoire (Deutsch: Staffellauf der Erinnerung) wurde 1989 in Frankreich von Überlebenden der Konzentrationslager mit dem Ziel gegründet, die Geschichte des Holocausts an die folgenden Generationen weiterzugeben und dafür zu sorgen, dass diese sich niemals wiederholt.

Internationales Treffen
An den Treffen nehmen auch junge Menschen anderer europäischer Schulen teil. Sie kommen aus Paris, Marseille, Newcastle und Krakau. Deshalb fanden dort die Treffen in den vergangenen Jahren statt. Auch in Norden hatten sich die jungen Leute getroffen. In diesem Jahr war Wien an der Reihe, denn auch Schüler aus Wien sind beim Relais de la Mémoire dabei.
Wie schon bei vorherigen Treffen gaben auch in Wien Zeitzeugen in kleinen Gesprächskreisen ihre berührende Lebensgeschichte an die Jugendlichen weiter. Aufbauend auf den Lehren der Vergangenheit sollen sie – die Schülerinnen und Schüler – die Zukunft Europas mitgestalten. Daher steht neben den Zeitzeugengesprächen auch immer ein aktuelles Thema auf der Tagesordnung. In künstlerisch- musischen Workshops sowie Plenumsdiskussionen konnten die Schüler hier ihren eigenen Zugang zum Thema „Migration, Flucht und Vertreibung“ finden.
Für Geschichtslehrerin Petra Drüke ist es „immer wieder beeindruckend, welche Kräfte das Relais freisetzt“. Das Interesse der Schüler an der Geschichte der Zeitzeugen beweise, „dass die Schüler keineswegs genug von der Zeit des Nationalsozialismus haben, wie es so häufig zu hören ist“. Das Gegenteil sei sogar der Fall, sie zeigten großes Interesseund zögen ihre eigenen Schlüsse. „Sie stellen die Frage: Warum hat man das den Menschen angetan? Gleichzeitig sagensie: Wir müssen aufpassen, dass so etwas nie wieder geschieht.“
Schüler, die in Norden eher zurückhaltend seien, demonstrierten bei den Diskussionen, „dass sie in der Lage sind, ihre Gedanken sogar in einer Fremdsprache überzeugend zu vertreten“. Gleichzeitig gingen die Jugendlichen ungezwungen miteinander um: „Sie sind neugierig aufeinander, respektieren die Meinung des anderen“, sagt Petra Drüke. „Der persönliche Austausch trägt viel dazu bei, dass Vorurteile abgebaut werden.“ Nach sechs Treffen fühle man sich beim Relais aufgehoben wie in „einer großen Familie“. Petra Drüke: „Sie können das nächste Treffen kaum erwarten.“
Inzwischen gibt es bei den Nordern auch die erste, die als „Junior Vétéran“ bezeichnet wird: Nadja Kasolowsky hat in diesem Sommer ihr Abitur gemacht und studiert inzwischen in Berlin. Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, zu dem Treffen nach Wien zu fliegen. So wie sie sind alle anderen Mitfahrer überzeugt, dass das Relais eine Erfahrung ist, die manauch nach seiner Schulzeit nicht missen möchte.


Neben der 18-jährigen Nadja Kasolowsky nahmen teil: Anja Müller (17 Jahre), Maike Becker (17), Emili Schwarzkopf (18), Sophie Tietz (17), Jannis Düngemann (17) und Leo Müller (16).
Stimmen der Norder Teilnehmer zum Treffen in Wien:
Jannis Düngemann: „Das Relais 2017 in Wien hat mir vor allem in den Diskussionsrunden unter den Jugendlichen gezeigt wie viel Potenzial in der Organisation steckt. In den Runden haben sich Jugendliche aus fünf Ländern mit dem Thema Migration und der damit zusammenhängenden politischen Partizipation beschäftigt. Es gab zwar an einigen Stellen Sprachbarrieren, aber es wurden hier Ideen und Gedanken ausgesprochen, die Europa in der Zukunft etwas weiterbringen können.“
Anja Müller: „Da ich kein Französischspreche, hat es mir besonders gefallen, dass das Relais dieses Mal in Wien stattfand. Ich hatte eine sehr liebe Gastfamilie und habe mich gefreut, viele Teilnehmer vom letzten Mal wieder zu sehen. Besonders gefallen hat mir der Schreibwerkstatt-Workshop, in dem wir unsere Biographie schreiben konnten. Das hat mir besondere Einblicke in die Lebensläufe anderer Teilnehmer ermöglicht.“

Berührende Geschichten
Maike Becker: „ Mich hat besonders die Geschichte der Zeitzeugin Lucia Heilmann berührt. Die 1929 geborene Wienerin wurde von dem Direktor ihrer Schule aus dem Unterricht geworfen („Alle Juden haben die Klasse zu verlassen“), ihr wurden nach und nach immer mehr Dinge verboten und schließlich wurde der Familie sogar die Wohnung genommen. In der Kristallnacht wurde ihr Großvater abgeholt, aber am meisten traf es sie, als ihre beste Freundin deportiert und mit der ganzen Familie in Auschwitz vergast wurde. Lucias Vater, der ins Ausland geflohen war, gelang es nicht, seine Familie nachzuholen. Lucia und ihreMutter überlebten den Holocaust im Versteck; Lucia hörte auf zu sprechen. Nach der Befreiung Wiens setzte Lucia Heilmann ihr Leben fort, als wäre nichts passiert. Erst im Zeitzeugenprogramm stellte sie sich ihren Erinnerungen.“
Dr. Jörg W. Rademacher: „Europa heute im Kleinformat zu erleben, mit vielen Sprachen, das ist eine Seite des Relais de la Mémoire. Die andere Seite ist das Miteinander von Jung und Alt, etwa beim „Aufwärmen“ und Kennenlernen in der Turnhalle des Hertha-Firnberg-Gymnasiums in Wien. Wenn Dolmetscher das Tempo des Gesprächs verlangsamen, werden die Worte zu Bleibe- und Asylrecht plötzlich zu Trägern philosophiegeschichtlicher Gedanken.“

Entnommen aus dem Ostfriesischen Kurier vom 12.12.17, Seite 4.